Für die Ausstellung „Ausstellungsraum und Handlungsraum“ haben Judit Villiger, Andreas Schwarz und Cindy Reichelt künstlerische Positionen ausgesucht, die sich in unterschiedlicher Weise inhaltlich mit dem Beziehungsgeflecht zwischen Produktions-, Repräsentations- und Rezeptionsort befassen. Die Werke selbst zeigen manchmal nur Ausschnitte eines Prozesses oder einer Reise, manifestieren sich für einen Abend, bevor sie in anderer Form im digitalen Raum weiterexistieren oder thematisieren das Flüchtige ihrer eigenen Erscheinung.
Die Künstlerin Alexandra vom Endt (*1959) nimmt sich in ihren Werken der Dialektik von Beständigkeit und Wandelbarkeit bildlicher Erinnerungen an. Eine wichtige Inspirationsquelle hierfür bilden Reisen und Auslandsaufenthalte, wo sie Bilder sammelt, die ihr im Alltag begegnen: Sei es der von Holzwürmern gezeichnete Riemenboden von Schloss Plüschow, wo die Künstlerin 2023 einige Monate arbeitete, von dem sie einen 1:1 Abdruck erstellte, selbst hergestellte Fotopostkarten ihrer 50tägigen Reise von Den Haag nach Bordeaux, die sie täglich an ihre Atelieradresse in Basel schickte oder die historische Postkartenansicht der „Statue de la République à Paris“, welche vom Endt auf einem französischen Flohmarkt fand, die sie um ein Vielfaches vergrösserte und mittels Collage und Übermalung verfremdete. Immer wieder taucht in ihrem Werk das heute ausgediente Medium der Postkarte auf.
2017 | Ansichtssache, Paris | Fine Art Print mit Oel bearbeitet und hinterleuchtet, 140×210 cm, 2022 | Fifty Postcards _ Postkartenserie | 50 Postkarten erstellt und versendet mit dem Postcardcreator, Zeitung | Farbdruck im Tabloidformat, Auflage 50, 2023 | Carte Blanche | Kartenständer mit 40 Kartensets, Digitaldruck auf Bristol, 2023 | Oversice – Panoramakarte | Schuhcreme auf Wachspapier, 70×500 cm
Den Auftakt zur Ausstellung im Haus zur Glocke macht dann auch ein Postkartenständer, der die Besucher:innen am Eingang empfängt. Er enthält Grusskarten mit dem Motiv cyangetränkter Büttenpapiere, welche die Künstlerin selbst herstellte. Carte blanche soll eine Projektionsfläche für die Ideen- und Gedankenwelt der Besucher:innen sein. Die organischen Ausformungen der ineinanderfliessenden Farbflächen und das Blattweiss lassen Raum für eigene Bilder und Assoziationen. Die abendliche Illumination mit Schwarzlicht lässt die Leerstellen erstrahlen und kann sinnbildlich für den Akt der Bildwerdung gelesen werden.
Eine andere bildliche Konfrontation stellt die Fotocollage Ansichtsache_Paris dar, die von der Wand, über den Boden, in den Raum hineingreift: Eine massiv vergrösserte, alte, vergilbte Postkarte mit der Ansicht der „Statue de la République à Paris“, überlagert mit Farbschlieren und collagiert mit einer Fotografie aus der Tagespresse: eine Reihe IS-Kämper, die rechte Hand zum Sieg erhoben. Die „Statue de la République à Paris“ wurde nach den Terroranschlägen 2015 in Paris zu einem Gedenkort für die Opfer, an dessen Sockel neben Blumenkränzen und Kerzen auch zahlreiche schriftliche und bildliche Bekundungen abgelegt wurden. 2016 reinigte die Stadt das Monument. Die Zeugnisse wurden fotografiert und archiviert und sollen in digitaler Form zugänglich gemacht werden.
Der Frage, was sich im Gedächtnis festsetzt und was in der fortwährenden Bilderflut verschwindet, widmet sich vom Endt in der Arbeit Fifty Postcards, die auf Fotografien der Künstlerin basieren, welche sie während einer Reise mit dem Fahrrad, entlang der Küste von Den Haag nach Bordeaux, aufnahm. Täglich wählte sie aus ihrem Bildfundus eine Fotografie aus und schickte sie per Postkartenapp an ihre Atelieradresse in Basel, wo eine befreundete Künstlerin die Karten vor dem Atelier der Künstlerin aufstellte. Das aufwendige Bildertagebuch ihrer Reise, fasste vom Endt, erweitert mit zusätzlichen Bildern und Texten einer jungen Autorin in einer Zeitung zusammen, welche den Besucher:innen im Haus zur Glocke zur Lektüre im 1. Obergeschoss gereicht wird.
Jasmin Sumpf